»Guten Tag, haben Sie heute schon Hundebabies gequält?«
Ein herrlicher Einstieg in meine marktforschung.de-Kolumne, finden Sie nicht? Der sogenannte "Social Desirability Bias" versichert uns ziemlich zuverlässig, dass bei dieser Frage die Zustimmungsrate gegen Null tendieren wird.
Bias sind kognitive Verzerrungen. Weniger negativ konnotiert sprechen wir auch von Heuristiken, überschlägigem Denken oder mentalen Abkürzungen. Viele Namen für ähnliche Phänomene, die unser aller Wahrnehmung, Meinungsbildung, Erinnerungen und Entscheidungsprozesse maßgeblich beeinflussen. Solche Denkmuster, die Psychologie beschreibt inzwischen deutlich über Hundert (!) davon, sind nicht per se gut oder schlecht, hilfreich oder schädlich. Sie sind vor allem eines: Menschlich.
Marktforscher und der Umgang mit kognitiven Verzerrungen: Absoluter Alltag.
Um als Marktforscher für unsere Kunden die Wirklichkeit - oder besser: die vielen subjektiven Wirklichkeiten unserer Studienteilnehmer - zu ermitteln, müssen wir um das ganze Spektrum dieser Bias kennen, sie verstehen und am Ende in unsere Analyse auch einpreisen. Das ist nicht nur wichtig für konkrete Befragungssituationen, sondern schon vorher für die komplette Abstimmung mit unseren Kunden. Denn nur die möglichst unverzerrte Analyse, wo Unternehmen oder Marken tatsächlich stehen (und wo sie hin wollen), verspricht ein erfolgreiches Marktforschungsvorhaben.
Und welche Heuristiken sind für uns besonders relevant: Neben der bereits genannten "Sozialen Erwünschtheit" zum Beispiel die Clustering Illusion, also das Erkennen von Mustern, wo gar keine sind. Selbstverständlich auch der Blockbuster unter den "Urteilsmacken", der Confirmation Bias als Bestätigung eigener Erwartungen. Oder wie wäre es noch mit Priming, Framing und dem Anker-Effekt? Plus die Gleichsetzung von Korrelation und Kausalität, der Halo-Effekt und - nicht zu vergessen - die Verfügbarkeitsheuristik!
Ist ja gut, ich hör ja schon auf!
Dabei gibt es noch etliche weitere Verzerrungen, hier unsere eigene schöne Übersicht dazu. Die meisten beeinflussen nicht nur das Design unserer Fragebögen, die Daten-Auswertung und die anschließenden Empfehlungen, sondern schlichtweg sämtliche Prozesse der Markt- und Meinungsforschung. Als geschulte Experten gelingt uns aber trotz allem die realistische Abbildung menschlicher Einstellungen. Dabei hilft uns neben wichtigem fachlichem Know-How vor allem sehr viel Erfahrungswissen über diese im menschlichen Denken einprogrammierte Fehlerhaftigkeit, Verführbarkeit und Bequemlichkeit.
Einprogrammieren? Da war doch was!
Wird nicht allendhalben darüber gemutmaßt, dass bald KI-angetriebene Algorithmen auch im Research-Business einen Bereich nach dem anderen übernehmen werden? Also nicht nur das massenhafte Sammeln und Aufbereiten von Daten. Nein, KI-Apologeten sprechen schon davon, dass künftig sogar Meinungen und Einstellungen von Menschen simuliert werden können, aber OHNE diese zu befragen!
Dass also Programme durch die unendliche Fütterung mit bisherigen Antwortverhalten lernen, wie vergleichbare Teilnehmer bei kommenden Befragungen sehr wahrscheinlich antworten werden. Das ist maschinelles Lernen at it's best!
Aber ist es denn wirklich möglich, dass am Ende ein sauber definierter Computer-Code die "Hirn-Algorithmen" von Menschen simuliert? Sprich deren individuelle Entscheidungsfindung und damit deren Urteile und Einstellungen vorhersagt? Klar, durch die Vergangenheitsdaten kennt der Computer automatisch auch die Auswirkungen aller real existierenden Heuristiken, ohne die humane Denkprozesse offensichtlich nicht auskommen. Aber versteht er sie auch in ihrer inneren Logik? Oder besser gesagt unsere ureigene innere Unlogik?!
Algorithmen mit gewollten "Bugs"
Für mich klingt es ein wenig widersinnig, wenn in eine mutmaßlich perfekte KI absichtlich viele kleine Fehlerchen eingeschrieben werden. Ein Programmierer würde hier wohl von intendierten "Bugs" sprechen. Und solche Verzerrungen werden ja nicht immer oder im gleichen Ausmaß begangen. Personen unterliegen ihrer Bias stets abhängig vom individuellen Kontext, mal mit Absicht, öfters jedoch unbewusst. Jedenfalls nicht irgendeiner einfachen Systematik folgend.
Oder vielleicht doch? Zumindest Daniel Kahneman hat uns alle in seiner Heuristik-Bibel "Schnelles Denken, langsames Denken" mit den Systemen 1 und 2 bekannt gemacht. Laut seinen Untersuchungen nutzen die Menschen im Alltag wesentlich öfter das schnellere, aber fehlerhafte System 1 und damit die besagten mentalen Abkürzungen. Erscheinen Situationen jedoch wichtig genug, wird mit System 2 quasi automatisch in ein höheren, aufwendigen Denkmodus geschaltet, der Verzerrungen möglichst verhindert und (hoffentlich) rationale Ergebnisse hervorbringt.
Zurück zur Marktforschung und der Frage, ob eine KI tatsächlich humane Denk-Systeme nachbauen könnte. Braucht es nicht trotz allen Fortschritts auch weiterhin erfahrene Profis aus Fleisch und Blut bei Umgang, Interpretation und Nutzung von meinungsbezogenen Daten? Schon weil sich Menschen einfach besser in die Lage anderer Menschen hineinversetzen können? Oder dauert es tatsächlich nicht mehr lang und es gibt erste Programme mit Intuition und Empathie?
Aktuell scheint alles im Fluss!
Ich bin an dieser Stelle ganz ehrlich: Allein schon durch die neuesten, spektakulären Entwicklungssprünge von Chatbots & Co. halte ich es für wenig seriös vorherzusagen, wie es auf diesem unfassbar dynamischen Technikfeld weitergehen wird. Alles scheint im Fluss und bei mir vermischt sich Unsicherheit mit Neugier und ganz viel Spannung!
Apropos "Unsicherheit": Diese erinnert mich an meinen ganz persönlichen Lieblings-Bias, dem Imposture-Syndrome - im Deutschen: Hochstapler-Effekt. Betroffene werden von großen Selbstzweifeln hinsichtlich eigener Fähigkeiten und Leistungen geplagt. Sie denken immer, ihre realen Erfolge und Leistungen hätten nichts mit ihnen selbst zu tun, sondern lediglich mit Glück und Zufall.
Von Sokrates zum Hochstapler-Effekt
Klingt auf den ersten Blick sympathisch, schließlich ist es allemal besser als sich narzisstisch überall für den Besten zu halten. Ich selbst mag dieses Phänomen derzeit vor allem wegen des Aspekts der Demut. Es passiert so viel und schnell, da kann die folgende Attitüde kaum schaden: "Je größer mein Wissen, desto mehr weiß ich um mein Nichtwissen!" Sokrates lässt hier ebenso grüßen!
Zumindest mich macht diese Haltung wach, aufmerksam und schützt effektiv vorm Kopf-in-den-Sand-Stecken. Was übrigens - sorry, ich kanns gerade nicht lassen - den Vogel-Strauß-Effekt beschreibt. Im Fachjargon der Ostrich-Bias!
Irren ist menschlich und menschlich sind auch die Verzerrungen in unseren Köpfen!
Müssen wir denn nun ernsthaft auch DIESES Feld komplett den Computern überlassen? Nein. Zwar hat das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz gerade erst so richtig begonnen, aber so bald werden wir Marktforscher das Heft des Handelns - also unsere Kunden! - nicht aus der Hand geben. Dafür sorgt außerdem eine andere ur-menschliche Eigenschaft unserer Hirne: Die Kreativität.
Oder wann wollte das letzte Mal eine Maschine von Ihnen wissen, ob Sie süße, kleine Welpen geschlagen haben?!
Fragt herzlichst, Ihr Herbert Höckel
Herbert Höckel is a managing partner here at moweb research GmbH. He has been a market researcher for more than 25 years. In 2004 he founded moweb GmbH, which he is still the owner today. moweb from Düsseldorf operates internationally and is one of the first German market research institutes specializing in digital processes.