Ausgabe No. 16 der Mafo.de-Kolumne "Herberts Welt"! Thema dieses Mal: Wie denken heutzutage eigentlich die Probanden über ihre EIGENE Rolle im Marktforschungsprozess? Empfinden sie sich bei der ganzen Technisierung und Digitalisierung vielleicht schon nur noch als Lückenfüller für KI-Personas? Quasi wie ein Feigenblatt für immer mehr synthetische Daten?
Herbert hat dazu - wie immer - seine ganz eigene Meinung und auch Mahnung an die Branche. Viel Spaß beim Lesen!
Marktforscher bin ich mit Leib und Seele, aber für die ersten Zeilen dieser Kolumne schlüpfe ich in die Rolle eines durchschnittlichen Bürgers und Konsumenten - ein Perspektivwechsel, den ich übrigens jedem von uns nur empfehlen kann. Aber warum an dieser Stelle? Um mich so besser in die Person eines potenziellen Umfrage-Teilnehmers einfühlen zu können.
Wie würde ich diese Situation wohl aktuell erleben, wenn heute ein Forschungsinstitut an mich herantreten sollte, mit der Bitte, diesem online, telefonisch oder persönlich Antworten auf einen Fragenkatalog zu geben? Wie sehr bin ich dann bereits VORHER von den Kollegen umworben und anschließend informiert, motiviert, geachtet und ganz grundsätzlich in meiner Rolle geschützt worden?
Erst neulich bin ich auf LinkedIn über diesen Beitrag von Karine Pepin gestolpert, den ich hier spontan als Beispiel mangelnder Empathie, Achtsamkeit und Wertschätzung heranziehe:
Quelle: Karine Pepin auf LinkedIn
Zurück zu mir als Proband: MEINE Stimme zählt doch. Oder etwa nicht?!
Wird mir wirklich positiv zu verstehen gegeben, dass es ohne mich als Mensch in diesem "Erkenntnisgetriebe namens Marktforschung" nicht vorwärts geht? Erhält meine Stimme so viel Vertrauen und Gewicht, dass sie letztlich sogar etwas verändern kann? Dass es sich für mich also lohnt, Zeit zu investieren und mich dafür auch anzustrengen?
Meine eher nüchterne Antwort (nun wieder als Marktforscher): Ich bin mir nicht sicher.
Warum sollte denn ein rekrutierter Konsument in Zeiten wie diesen glauben, dass seine subjektiven Ansichten vom Institut und seinen Kunden in aller Tiefe wertgeschätzt werden? Klar, der Proband wird freundlich um seine Mitwirkung gebeten und erhält nicht selten dafür auch ein gewisses Incentive, doch wie wird unsere Marktforschungs-Bubble derzeit eigentlich von solchen Außenstehenden wahrgenommen?
Diese Bubble hat sich in der vergangenen Zeit dramatisch verändert: Die Zahl der Umfragen wächst seit Jahren inflationär inklusive vielfältiger Probleme wie Teilnahmebetrug oder mangelnde Antwortquoten. Frisch hinzugekommen sind der Einsatz neuartiger, synthetischer Probanden oder gar kompletter KI-Personas, die damit im Grunde den echten Menschen als Panelmitglied entwerten. Außerdem fast täglich neue Entwicklungen rund um populäre LLM-Programme wie chatGPT, die - zumindest scheinbar - Antworten auf ALLES haben.
Der Proband benötigt die Ansage: Du wirst gebraucht. Mehr denn je!
Es sind genau diese KI-Anwendungen, die nicht nur für die Fragebogengestaltung oder anschließende Datenanalyse eingesetzt werden (dafür scheinen sie tatsächlich gut geeignet), sondern zunehmend auch für die Erhebung - NEIN - die "Produktion" von Daten. Letzteres aber knabbert zunehmend am Wert echter Probanden, die bereits heute ahnen, am Ende dieser Technisierung und Digitalisierung nicht mehr gebraucht zu werden. Und wenn doch, dann vielleicht nur noch als Korrektiv für die ach so schlauen Erkenntnisse der Silicone Samples.
Das alles wirkt wohl kaum motivierend auf das Engagement eines jeden Forschungsteilnehmers. Dabei brauchen wir sie doch! Und das heute mehr denn je. Für authentische Meinungen, echte Emotionen, inspirierende Impulse und kreative Ideen.
Nicht falsch verstehen: Auf die vielen neuen Anwendungen können wir keinesfalls mehr verzichten, vor allem wenn wir im Kampf mit immer mehr Bots und Frauds das "Feld" nicht den Betrügern überlassen wollen. Das Gleiche gilt für die inzwischen unfassbar guten Lösungen zur Optimierung der Prozesse vor und nach der Datenerhebung (Pre- und Post-Production im End-to-End-Zyklus).
Sie - die KI-Helfer - machen uns nicht nur qualitativ besser, sie sparen uns mit Effizienzgewinnen auch eine Menge Zeit. Freiwerdende Ressourcen, die wir für die wirklich wichtigen Themen unserer Branche nutzen können.
Ein möglicher Weg: Die "Participant Bill of Rights".
Ein Schritt in die richtige Richtung ist zum Beispiel die "Participant Bill of Rights“ (die Charta der Teilnehmerrechte), ins Leben gerufen von der Insights Association (IA) und dem Council for Data Integrity. Markt- und Meinungsforscher sollen sich verbindlich und proaktiv zur Einhaltung von 16 Paragrafen im Sinne ihrer Probanden bekennen. Es geht z.B. um deren "Recht auf Rücktritt", der Ausstieg aus einer Studie soll entsprechend einfach und leicht machbar sein. Oder neben dem "Recht auf Benachrichtigung bei Datenpannen" auch das "Recht auf Feedback", das die Testperson dem Institut zu jedem Zeitpunkt (vertraulich) mitteilen kann.
Die Charta postuliert ein grundsätzlich faires Verhältnis auf Augenhöhe zwischen Unternehmen und Teilnehmer und das an allen Touchpoints einer Erhebung. Gut so! Aber folgende Fragen sind noch ungeklärt:
Marktforschung ist Geben und Nehmen!
By the way: Funktionierende Verhältnisse zwischen zwei Parteien basieren immer auf Reziprozität. Wo also Rechte sind, da sind auch Pflichten - auch um den gegenseitigen Respekt zu fördern. Die Probanden selbst "könnten" sich demnach verpflichten, ihren eigenen Part zum Gelingen des Projektes zu versprechen. Beispielsweise mit einem Bekenntnis zu Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt. Hier allerdings ist Fingerspitzengefühl gefragt, denn es darf nicht den Anschein machen, dass wir alle Teilnehmer unter Generalverdacht von Schlampigkeit oder Unehrlichkeit stellen.
Wird ein Incentive bezahlt, stellt sich natürlich stets die Frage nach seiner Höhe. Vor allem im Online-Panel Business, wo eine eher symbolische Größe selten übertroffen werden kann. Jede Erhebung oder Studie würde sonst schnell unbezahlbar und außerdem: Wer will denn taxieren, was die Rohdaten eines Teilnehmers letztlich wirklich wert sind?
Bei Geld hört der Spaß auf. Oder doch ein "Mindestlohn" für Teilnehmer?
Was wir anstreben sollten, ist eine Art "Mindestlohn" auf monetärer, primär aber auch auf informationeller und ethischer Ebene. Also erstens echte Incentives und keine Almosen, zweitens eine konsequent respektvolle Kommunikation auf Augenhöhe und drittens die Einhaltung aller ethischen Grundsätze im Sinne der Teilnehmer.
Es gilt: Human first. Technology second!
Zurück zum Anfang: Es ging um die Wertschätzung der Rolle des Menschen innerhalb der Marktforschung. Bedeutet "Human first. Technology second" und nicht umgekehrt. Ich bin mir allerdings fast sicher, dass nicht alle Verantwortungsträger das so sehen und diese daher noch mehr in die Ergänzung oder sogar Substituierung von Teilnehmern aus Fleisch, Blut und Hirn investieren.
Das ist ihr gutes Recht, aber nicht meine Position. Schon immer haben die Kunden meines Instituts von mir gefordert, die erhobenen "Daten mit der Wirklichkeit zu validieren". Die Wirklichkeit steckt jedoch nun mal ausschließlich in realen Menschen und nicht in KI-Systemen.
Ich verweise an dieser Stelle auf die Arbeit von Mohammad Atari et al. (siehe Grafik) und zitiere aus dem Gedächtnis: „Je weiter man sich kulturell von den USA entfernt, desto geringer ist die Korrelation zwischen GPT und der Bevölkerung“. Das liegt zum einen daran, dass ein Großteil der Lerndaten der gängigen LLMs scheinbar kaukasisch, männlich, wohlhabend und über 60 ist sowie aus den Vereinigten Staaten stammt - die implizierten Verzerrungen machen mich tatsächlich schwindelig.
Zum anderen werden diese Algorithmen fast alle in weiß-dominierten westlichen Ländern des globalen Nordens programmiert. Sie entschuldigen meinen Zynismus an dieser Stelle, aber hier sollen die Äpfel wohl die Birnen simulieren?!
Quelle: Mohammad Atari et al „Which Humans?” https://osf.io/preprints/psyarxiv/5b26t
Fazit: Ohne echte Menschen sägen wir am Ast, auf dem wir sitzen.
Auf den MENSCH – also das Fundament unserer Arbeit – müssen wir gerade WEGEN allen Fortschritts mehr aufpassen. Wir müssen sie kommunikativ stärker abholen, sie motivieren, Unsicherheiten reduzieren und ihre Meinungen schätzen & schützen! Nicht nur vor Datenklau, sondern indem wir sicherstellen, dass ihre Stimmen im Wust künstlicher Akteure oder betrügerischer Störgeräusche nicht verwässert werden. Es ist an uns, ihnen genau das immer wieder zu bestätigen!
Sie dürfen niemals befürchten, nur noch als Feigenblatt für hauptsächlich synthetische Daten degradiert zu werden. Ihnen gehört nach wie vor in unserem Business die Hauptrolle, da nur sie wahre und neue Erkenntnisse möglich machen. Das sollten wir – bei aller Technikbegeisterung – nicht vergessen.
Herbert Höckel ist geschäftsführender Gesellschafter hier bei bei der moweb research GmbH. Seit mehr als 25 Jahren ist er Marktforscher. 2004 gründete er die moweb GmbH, welche er bis heute als Inhaber führt. Die moweb aus Düsseldorf ist international tätig und eines der ersten deutschen, auf digitale Verfahren spezialisierte Marktforschungsinstitute.